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Erik Satie – der skeptische Klassiker

von Oliver Vogel

Das neue Buch

ERIK SATIE – DER SKEPTISCHE KLASSIKER

Eine Künstlerbiographie

„Ein perfekter wissenschaftlicher Roman“

Satie erprobt als moderner Sokrates Freund und Feind

und betreibt nebenbei

die Vervollkommnung

einiger ihm teurer Ideen:

-dekorative Musik

-Amateurgeist

-neue klassische Typen

sowie nicht zuletzt ein Humor

der sich versöhnlich und kämpferisch zugleich gibt.

Jetzt kaufen

Sowohl als e-Book wie als Hardcover erhältlich bei Metzler







und bei Bärenreiter

REZENSIONEN



Peter Sühring

in: Forum Musikbibliothek

1 / 2025

Diese Monografie über Satie ist ein perfekter wissenschaftlicher Roman. Diese Bezeichnung klingt ebenso paradox wie der Untertitel des Buches, der eine versteckte Andeutung dafür sein könnte, dass Satie in Wirklichkeit der Antiklassiker par exellence war. Der Autor hat mit seiner luziden Argumentation, seinen konzisen Begründungen nicht nur der kompositorischen Sachverhalte, sondern auch der menschlichen Lebensumstände dieses Künstlers, hat mit seinen aufgeworfenen Fragen und seinen entwickelten Thesen ein schwer einholbares oder gar überbietbares Opus geschaffen, das der Aufnahme Saties in Deutschland und seinem Verständnis großen Nutzen bringen müsste und in jeder guten öffentlichen und privaten Musikbibliothek zu finden sein sollte.

Übertrieben scheint allerdings die Covertext-Mitteilung, dies sei die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung Saties seit Jahrzehnten. Als letzte ist wahrscheinlich jene von Grete Wehmeyer aus dem Jahr 1974 gemeint, der die Autorin 1992 aber noch einen Band mit Bildern und Dokumenten sowie 1998 (2. Auflage 2005) eine rowohlt monographie folgen ließ. Die interessante Studie von Tomas Bächli von 2016 wird hier ganz übergangen und auch in der inneren Bibliografie nicht vermerkt. Verwunderlich ist auch, dass Vogel so sehr und fast ausschließlich in den französischen Originalen Saties und seiner Zeitgenossen sich bewegt, dass er überwiegend aus ihnen zitiert und selbst übersetzt, auch da, wo es, wie im Fall der Ecrits de Satie (hrsg. von Ornella Volta, Paris 1977), eine von der gleichen Herausgeberin veranstaltete parallele deutsche Ausgabe seiner Schriften gibt (Hofheim 1988, 3. Auflage 1997). Auf sie den Leser zu verweisen, macht sich Vogel nur an äußerst wenigen der zahlreichen Stellen, an denen er Satie zitiert, die Mühe. Man darf annehmen, dass der Autor vielleicht ein Absolvent des Französischen Gymnasiums in Berlin war und sich seither in der französischen Sprache und Kultur wie ein Fisch im Wasser tummelt, zudem längere Zeit für Recherchen in Pariser Bibliotheken und Archiven zugebracht hat, was der Fülle und Dichte seiner Erzählung und ihrer Untermauerung durch zitierte Quellen und Dokumente sehr zugute kommt.

Vogels Art, vom Leben und der Kunst Saties beobachtend und interpretierend zu erzählen und ihr inneres Wesen, die spezielle, nur Satie zugehörige Wahrheit, ihre eigene, zu den Konventionen quer stehende Logik freizulegen, unterscheidet sich allerdings stark von allen bisherigen Versuchen, das Phänomen Satie zu fassen. Seine Methode, sich und seinen Lesern den Unnahbaren nahe zu bringen, ohne in eine trügerische Vertrautheit mit ihm zu geraten, ist dadurch bestimmt, Satie als eine sich selbst konzipierende Kunstfigur zu erkunden. Satie hatte nämlich neben einer durchgängigen fixen Idee (der des sokratischen Fragens, des Gewissheiten Unterlaufens) noch etliche weitere Modelle durchgespielt und wie Schlangenhäute wieder abgeworfen, als ihre Grenzen erreicht waren.

Saties erste Konzeption nach dem Abbruch seines Musikstudiums am Pariser Conservatoire, welcher sich dann später nur als eine Unterbrechung herausstellen wird, weil er es an der Schola Cantorum fortsetzen und beenden wird, war eine Reaktion auf den erfahrenen Albdruck von Traditionen, deren Last sein quirliges Gehirn nicht zu tragen bereit war. Es war die Konzeption des besitzlosen Adeligen, mit der er sich Jahrzehnte lang nicht gerade erfolgreich, aber überlebensfähig halten konnte, sich zunächst in der Kabarett-Bohème von Montmartre, später auf dem Montparnasse einnistete und noch später vereinzelt – unterstützt von Kampagnen seiner Freunde und Verehrer – sogar im Pariser Zentrum reüssieren konnte – natürlich von Skandalen beim bürgerlichen Publikum umwittert. Saties Lebenskonzeption erinnert doch sehr an Hugo Balls Figur des VarietéDirektors Flametti, der ein Dandytum der Armut pflegt. Diese Konzeption hat ihre von Vogel geschilderte äußere Physiognomie und ihre innere, vornehm-skurrile Form, die sich eben auch simultan in der Art zu komponieren niederschlägt. Vogel schildert sie als von Verzicht geprägt: Verzicht auf üppige Akkorde, auf Modulationen, mitunter sogar auf Taktstriche, um harmonisch und rhythmisch freie Melodielinien zu gewinnen, um seine Gymnopédies und Gnossiennes als unterhaltende und halbsakrale Klavierstücke, später ganze Ballettmusiken zu erfinden. Der Weg in die variablen Klangwelten eines nicht finsteren, sondern von mehr als nur zwei Tongeschlechtern geprägten Mittelalters war da nur konsequent.

Die in Vogels Darstellung unterschwellig, fast unausgesprochen mitgeschleifte These, im Mittelalter seien nicht nur die Kirchengesänge in einem der tongeschlechtlichen Modi (in Deutschland auch „Kirchentonarten“ genannt) gesungen worden, sondern auch weltliche Gesänge und Instrumentalmusik, bleibe dahingestellt, dass aber Satie derjenige war, der aus der Krise der Dur-Moll-Harmonik heraus die mittelalterlichen Modi als einen neuen Kosmos wiederentdeckte, weltlich-frivole skeptisch-melancholische Klaviermusik in ihren Sphären und Charakteren komponierte und damit auf seine Art die Krise an der Schwelle zur Moderne überwand, damit selber modern werden konnte, ist wohl wahr.

Vogels Darstellung des Satie-Kosmos ist nicht nur eine Zusammenfassung aller bisher bekannten Tatsachen, sondern selbst ein Quellenwerk geworden für die Aufdeckung von Zusammenhängen, die so bisher nicht präsent waren, und sie überbietet damit auch die existente französische Literatur, sollte also dringend ins Französische übersetzt werden, sofern nicht ein vergleichbares Buch in Frankreich erscheinen sollte. Darüber hinaus bietet sie eine luzide durchdachte und mit leichter Geste formulierte Interpretation der sozialen Milieus und der Saties Kunst prägenden Lebensumstände. Denn autonom im Sinne von funktionslos in einem asozialen Raum war Saties Musik trotz ihres Eigensinns nie. Selbst davor, dass junge Leute sich als seine Schüler betrachteten und eine nach ihm oder nach seinem Rückzugsort Arcueil benannte Schule gründen wollten, konnte er nichts anderes ausrichten, als sich abermals zu häuten und sie vor den Kopf zu stoßen.

Vogel hebt Saties Musik über ihre Verwurzelung und Verzweigungen in der französischen Musikgeschichte auf eine universelle Ebene. Saties Musik in Verbindung mit Tanz und Ballett müsste eigentlich in unserer auf dieses Genre abgefahrenen Kunstszene ein aktuelles Echo finden, und so kann man nur hoffen, dass zu seinem 100. Todestag im Jahr 2025 seine Ballettschöpfungen ParadeMercure und Relâche auch auf deutschen Bühnen wieder zu finden sein werden. Vogel gibt keine diskografischen Hinweise oder Empfehlungen. Auch auf die Gefahr hin, dass diese Einspielungen schon längst vergriffen sind: die Klaviermusik unbedingt von Aldo Ciccolini, Relâche und Socrate (letzteres sind musikalisierte Stücke aus Dialogen von Platon, in denen Sokrates als Saties ideale Gestalt des nichtswissenden Alleswissers erscheint) mit dem Wiener Ensemble „die reihe“ unter Friedrich Cerha.

Nach 640 Seiten reflektierter Erzählung und analytischen Beschreibungen finden sich in dem Buch interessante, instruktive Anhänge: Die komplexe Quellenlage zur Messe des pauvres wird tabellarisch dargestellt, ebenso die Überlieferung der Schola-Manuskripte. Dann gibt es mehrere sogenannte Zeitleisten, tabellarische Übersichten, zunächst über Saties Leben von 1866 bis 1925, dann der Perioden Lehrjahre (1878–1887), Montmarte (1888–1898), Ruhmlose Zwischenzeit (1898–1912), Montparnasse (1911–1918), Letzte Jahre (1919–1925). Für die letzten beiden Perioden ist noch eine weitere Tabelle über die verwickelte Geschichte seiner Publikationen beigefügt. Zu den zahlreichen Notenbeispielen im Fließtext zusätzlich erscheinen hier noch musikalische Beigaben, in denen man die melodischen Konturen der Basslinie zum Sprechgesang des Gedichts Les Pantins dansent sowie eine deutsche Singversion aller drei Teile des Socrate verfolgen kann. Es folgen eine Auswahl-Bibliografie und ein Verzeichnis mit Nachweisen der zahlreichen Abbildungen, mit denen das Buch luxuriös ausgestattet ist. Unter den angehängten Indizes findet man ein alphabetisches, französisch/deutsch gemischtes Werkverzeichnis, ein Sachverzeichnis, das nochmals dokumentiert, wie sachbezogen, auf Örtlichkeiten und musikalische Begriffe hin die Darstellung insgesamt orientiert ist (fast hätte man sich das in Form eines Glossars mit Worterklärungen gewünscht), und ein Namensverzeichnis.

An sich sollte in jedem Buch über Satie ein Scherz nach Saties Geschmack versteckt sein; der Rezensent konnte aber hier keinen entdecken, jedenfalls keinen so offensichtlichen und schönen wie in einer (bei Vogel keine Erwähnung findenden) Ausgabe von Satie-Schriften im Zürcher Atlantis Musikverlag (1989), wo unter den „Büchern über Erik Satie“ das Buch eines gewissen Heinz Erhard (sic!) aufgeführt ist: „Satierliches, Goldmann TB 1979“.

Peter Sühring arbeitete als Buchhändler und Musikwissenschaftler in der Forschung. Seit 2012 indexiert er ältere deutschsprachige Musikzeitschriften für RIPM

Walter Dobner

in der Wiener Tageszeitung

"Die Presse"

am 10. Februar 2025

Erik Satie: Wer war dieser Komponist wirklich? Zum hundertsten Todestag des französischen Komponisten kam die Biografie „Erik Satie: Der skeptische Klassiker“ von Oliver Vogel heraus: Höchst empfehlenswert. Am Lebensende resümierte Erik Satie: „Ich habe keine Note geschrieben, die nicht auch einen Sinn in sich getragen hätte.“ Der Schriftsteller und Maler Francis Picabia, der mit Satie beim avantgardistischen Ballett „Relache“ zusammengearbeitet hatte, bezeichnete den Komponisten in seinem Nachruf als „klarer und frischer Quell, aus dem viele, ohne zu zögern, geschöpft haben“. Für den der zeitgenössischen Musik besonders verbundenen spanischen Pianisten Ricardo Viñes war Satie „der Diogenes der Musik, schelmischer Humorist und Bohème-Held des gehobenen Stils“. Wer war der 1866 in der Normandie als Sohn eines französischen Schiffmaklers, Übersetzers und Musikverlegers und einer früh verstorbenen englischen Mutter geborene, anglikanisch getaufte Erik-Alfred Leslie Satie, der sich ab 1884 nur mehr Erik Satie nennen sollte, wirklich? Eine Doppelnatur aus Dandy und Eremit? Ein Mystiker der Kunst, stets auf der Suche, eine alte Welt mit neuen Augen zu sehen, der sich dabei bewusst der Malerei als musikalisches Ausdrucksmittel bediente? Erik Satie, ein „Komponist der komischen Art“ Jedenfalls ein besonderer Kenner der Musik des Mittelalters, aus der er wesentliche Anregungen für seine sich meist durch höchst eigenwillige Bezeichnungen auszeichnenden Werke empfing, was ihm den Ruf eines „gelehrten Komponisten der komischen Art“ eintrug. Gewiss auch ein Exzentriker, wie man ihn heute wohl bezeichnen würde, denkt man nur an sein Klavieropus „Vexations“: Vier Zeilen, die 840-mal wiederholt werden sollen. Das bedeutet am Ende eine Spielzeit von fast 24 Stunden, wie man seit der Uraufführung weiß. An ihr war Satie übrigens nie interessiert. Sie realisierte erst 1963, 38 Jahre nach seinem Tod, ein anderer Revolutionär der Musik: John Cage. Auch darüber kann man in der jüngsten deutschsprachigen Monographie ausführlich lesen, die der deutsche Musikwissenschaftler und eminente Satie-Kenner Oliver Vogel im Vorfeld von Saties hundertstem Todestag am 1. Juli kürzlich herausgebracht hat. Ihm ist das seltene Kunststück gelungen, ein bis ins Detail dokumentiertes Lebensbild mit prägnanten Werkanalysen selbstverständlich zu verknüpfen. Damit hat er – nicht nur von seinem Umfang her – das bisherige deutschsprachige Satie-Standardwerk von Grete Wehmeyer von Anfang der 1970er-Jahre bei Weitem übertroffen. Mit Schirm, Gehrock und Melone Schon aus den Überschriften der mehrfach unterteilten drei Hauptkapitel – „Montmartre-Typen (1888–1897)“, Hundejahre in Arcueil (1898–1915)“ und „Montparnasse – Jahre späten Ruhms (1916–1925)“ – wird deutlich, wie sehr es dem Autor dieser durch eine Vielzahl von Augenzeugenberichten belegten Publikation um die Beziehung von Saties Werk mit seinen jeweiligen Lebensumständen geht. Satie war Teil der schillernden Künstlergesellschaft des Pariser Montmartre, in dessen Cabaret Chait noir er zuweilen als Pianist auftrat, um sich seinen Lebensunterhalt zu sichern. Er zog sich in seinen späteren Jahren aber nach Arcuil, einer Arbeitervorstadt von Paris, zurück, um aus diesem sehr anderen Ambiente Inspirationen für eine Neuorientierung seines Œuvres zu gewinnen. Das zeigte er auch äußerlich: Statt in
Samtanzügen trat er ab nun in schwarzem Gehrock mit Melone, Schirm und weißen Handschuhen auf. So wie er sich in früheren Jahren, wenn auch nur kurz, dem Rosenkranzorden angeschlossen hatte, widmete er sich nunmehr ehrenamtlich der Kinder- und Jugendbetreuung. Eine weitere Facette dieses von Debussy wie Ravel hoch geschätzten, zuweilen auch heftig kritisierten Zeitgenossen. Formlos? Das Klavierstück ist doch „birnenförmig“! Als Debussy Satie, der in jungen Jahren wegen Faulheit vom Pariser Conservatoire flog, ehe er als Vierzigjähriger erneut musikalische Studien aufnahm, der Formlosigkeit zieh, konterte dieser mit dem Titel seines 1903 entstandenen vierhändigen Klavieropus „Trois Morceau en forme de poire“, was er mit ironischem Zwinkern kommentierte: „So nannte ich sie birnenförmig – und das sollte ihm und jedermann zeigen, dass sie nicht formlos sind.“ Ebenso ausführlich und profund setzt sich Vogel mit Saties Rolle als Vorreiter der Group des Six auseinander. Er beleuchtet Saties Beitrag für den Kubismus und Dadaismus, vor allem seine generelle Ambition, Wege für Entwicklungen zu bahnen, die bewusst gegen den Zeitgeist opponieren. Der Autor relativiert auch den Skandal, den die Uraufführung des von Satie gemeinsam mit Picasso und Cocteau konzipierten und von Diaghilews Balletttruppe realisierten Balletts „Parade“ entfacht hat. Was Cage seinerzeit über Satie formuliert hat – „Die Frage ist nicht, ob Satie relevant sei. Er ist unerlässlich“ –, gilt auch für Vogels „Der skeptische Klassiker“, so der Untertitel seiner auch mit einer Zeittafel und einem Werkverzeichnis ausgestatteten Satie-Auseinandersetzung. Nämlich: Wer über Erik Satie umfassend informiert sein will, für den ist die Lektüre dieses Buchs, das man schon jetzt als Standardwerk ansprechen kann, unerlässlich. Walter Dobner

Andreas Göbel auf Radio 3 vom rbb am 6. Februar 2025

Dieses Buch hat das Zeug dazu, ein neues Standardwerk zu werden

Christoph Vratz im Südwestrundfunk am 11. Dezember 2024




und

derselbe

in der nmz

3/2025

Erik Satie: Wer war dieser Komponist wirklich? Er gilt als Exot. Bis heute. Dennoch oder gerade deswegen genießt Erik Satie eine außergewöhnliche Popularität. Denn seine Musik ist so eigen, so unverkennbar, dass sie für die Werbung genauso interessant ist wie für den Film. Doch ist das Schaffen des Franzosen ungleich größer, ungleich komplexer, als es zunächst den Anschein hat.

Satie hat sich gerne inszeniert, vor allem als ein Mann der Widersprüche. Er wirkte exzentrisch und verführerisch, aber erkonnte in ähnlicher Weise auch verstören. Er gab sich gerne als Bohemien, galt als verschroben, etwa weil er sichtagelang im Spiegel anschauen konnte oder weil er beharrlich mit Hut und Mantel in einem Hotelzimmer sitzen konnte. Er soll sieben Cord-Anzüge auf einen Streich erstanden haben, um in der Öffentlichkeit immer gleich gekleidet zu erscheinen. Satie, das Mirakel.

Erik Satie als Mensch, Musiker und Kunstfigur

Von Satie selbst ist bekenntnishaft überliefert, dass es sich bei seinen Werken „nicht um Musik handelt“. „Ich mache Phonometrie, so gut es eben geht.“ Lakonisch fragt er: „Bin ich denn etwas anderes als ein Akustikarbeiter ohne großes Wissen?” Oliver Vogel bezeichnet Satie daher in seinem neuen Buch einen „Sokrates der Musik“. Ein Musik-Philosoph also!? „Wo ein Leben als eine Reihe von Seltsamkeiten erzählt wird, darf dem Erzähler misstraut werden. Soll, wovon er redet, die ganze Sache sein?“ Damit ist Vogels Ansatz bereits umrissen: Er möchte Satie, der sich gerne unter seinen Kopfbedeckungen und hinter Brillen und Monokeln zurückgezogen hat, als Menschen und als Musiker unter die Lupe nehmen, ihm sozusagen die Masken entreißen und die von ihm gerne gestreuten „Anekdoten und Phantasien“ hinterfragen: „mit Sinnlichkeit verschleierte er die Sicht auf das möglicherweise Sinnhafte seines Lebens und listig entwand er es zusammen mit seinen Werken dem fertigen Urteil.“

Geboren in der Normandie, aufgewachsen in Paris, ist Satie weitgehend ein Autodidakt, wie man es von einem Sonderling seines Kalibers fast schon erwarten kann. Erst mit fast 40 Jahren will Satie nochmals die Schulbank drücken. Zwar versucht sein Lehrer Albert Roussel, ihm dieses Vorhaben auszureden, doch Satie bleibt beharrlich und möchte Komposition und Kontrapunkt (neu) lernen. Ihm geht es allein um die Sache: „Was manchen Abenteurer in der Mitte des Lebens zu einer Neuorientierung bestimmt, die Sorge, seine Existenz abzusichern, interessierte den bescheiden lebenden Künstler aus Arcueil nicht.“ Nach dreijähriger Studienzeit erwirbt Satie sein Diplom.

Dieser biografischen Zäsur entsprechend, gliedert sich sein musikalisches Schaffen, grob gesagt, in zwei Phasen: Jugendwerke, Unterhaltungsstücke für Cafés und andere Vergnügungs-Orte einerseits, und die Früchte aus seiner Zeit alsspätberufener Schüler und Absolvent andererseits. Demzufolge muss Satie lange warten, bis etwa seine Orchesterwerkewürdigend wahrgenommen werden. Mitverantwortlich dafür ist etwa „Parade“, jenes Ballett, das, in einer Co-Produktion mit Jean Cocteau und Pablo Picasso, bei der Uraufführung mit den berühmten Ballets-Russes 1917 einen Skandal auslöst.

Entmystifizierung

Oliver Vogel folgt den zu Beginn seines Buches selbst auferlegten Prämissen gewissenhaft. Er forscht akribisch und widmet den von Satie eigens gestrickten Legenden nur so viel Raum, um sie zu bestätigen oder, und das häufiger, um sie zu entkräften. Er weist nach, dass Satie sich nicht gescheut hat, sich mit den mächtigsten Publizisten seiner Zeit anzulegen, er zeigt aber auch, dass Satie bereitwillig kritische Geister um ihre Meinung gefragt hat, darunter Florent Schmitt und Robert Montfort. Vor allem die sehr detaillierten musikalischen Analysen geben Aufschlüsse über die Kniffe, die Ideen und das handwerkliche Können Saties, etwa wenn Vogel zeigt, wie Satie seine Techniken funktionalisiert: „Nicht wenige der in den Fugen von „Im Pferdegewand‘ entwickelten Ideen sieht man in den späteren Werken als charakteristische Stilmittel wiederkehren.“ Vogel nennt Formen der Wiederholung, dazu die „etwas barock anmutenden“ Anläufe und die zahlreichen Registerwechsel sowie eine gewollte Unzuverlässigkeit von Saties Satztechnik: „Dieser wechselt, wo immer der harmonische Wille nach größerer Deutlichkeit verlangt, spontan von der Einstimmigkeit zur Vielstimmigkeit.“

Vogel zeigt, wie sich Satie innerhalb einer kühnen Avantgarde seinen Platz als Solitär erarbeitet und diesen behauptet, er beschreibt, wie sich Satie für seine Eleven einsetzt und Widersacher in die Schranken weist —auch durch die Vorspiegelung falscher Eigenschaften: „Manchem kam es vor, […] all sei seine Empfindlichkeit eine bloße Marotte.“

Dieses Buch verdient ein breiteres Publikum als es zunächst den Anschein haben mag: musikwissenschaftlich Geschulte kommen ebenso auf ihre Kosten wie diejenigen, die sich rein aus Neugierde und ohne Vorkenntnisse dem Phänomen „Satie“, seiner Person und der Zeit, in der er gelebt hat, nähern wollen. Oliver Vogel wandert geschickt durch die Fülle seiner Quellen, er arbeitet immer wieder den empfindsam-reizbaren Charakter Saties heraus und führt insgesamt souverän durch eine an Pointen nicht gerade arme Biografie. Auch die von vielen Vernebelungen geprägte Rezeption findet eine knappe Würdigung. Rund vierzig Seiten Anhang runden den erhellenden Band ab.

Susanne Hein im Newsletter des Landesmusikrats Berlin
Weihnachtsausgabe 2024

Der Wandelbare

Buchempfehlung von Susanne Hein,

Leiterin der Musikbibliothek der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB)

Verlagsflyer

Was hat diese Biographie, was andere nicht haben?

Sie wartet mit zahllosen völlig neuen Anekdoten auf, die aus dem Journalismus der Zeit mit digitalen Hilfsmitteln erschlossen wurden.

Sie berichtet, wie Satie seinen auf dem Montmartre antrainierten Humor zu einer Methode der Hinterfragung formte.

Sie klärt über Saties Verhältnis zu Popularmusik und gelehrtem Kontrapunkt auf
Sie enthält die geheimen “Brocken einer Lehre”
Sie spricht erstmals offen über das Phänomen der pornographischen Musik
Sie vereint die weit auseinanderlaufenden Perspektiven
der beiden bis heute maßgeblichen Gesamtdarstellungen von
Robert Orledge (1990) und Steven M. Whiting (1999)
wider zu einem geschlossenen Bild

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